Autor: K.-R. Martin
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(kein Vorgängerkapitel)
Kürzel: K7

Die Zukunft der Kirchenmäuse

Man schreibt das Jahr 2035. In diesem Jahr wird die Klein Wesenberger Kirche 150 Jahre alt, nachdem die alte Kirche am 30. April 1882 bei einem großen Feuer im Dorf auch ein Opfer der Flammen wurde und man auf den Grundmauern der alten Kirche eine neue erbaut hatte, welche am 27. März 1885 eingeweiht wurde. Seitdem lebt in der Kirche auch eine Mäusefamilie und vererbt den sicheren Unterschlupf unter dem Podest der Kirchenbänke von einer Generation zur nächsten. Doch nicht nur dieser sichere Unterschlupf wird weitervererbt, sondern auch das Wissen darüber, wie vor 150 Jahren eine Mäusefamilie diesen Unterschlupf für sich auserkoren hat, und was sich seitdem so alles in der Kirche zugetragen hat. - Die Mäusefamilie des Jahres 2035 ist bereits die 75. Generation, denn Hausmäuse werden gerade mal zwei Jahre alt, wenn sie nicht schon vorher einer Katze oder einer Mausefalle zum Opfer gefallen sind.

Dass damals, im Jahre 1885 kurz nach dem Neubau eine Mäusefamilie Zuflucht in der Kirche suchte und fand, kam so: 

Nur mit Mühe war die Mäusefamilie, Vater, Mutter, Tochter und Sohn, den scharfen Krallen der sie verfolgenden Katze entkommen. Der Spalt unten an der Kirchentür hatte sie vor dem drohenden Tod gerettet, denn er ist so winzig, dass nur Mäuse in die Kirche hineinhuschen können, Katzen aber draußen bleiben müssen. Alle waren völlig außer Atem, aber in Sicherheit. Die vierköpfige Mäusefamilie hatte ihren Bau verlassen und wollte sich auf den Weg machen, um Futter zu suchen. Dabei war das eine ganz ungewöhnliche Zeit für eine Katze. Die meisten Katzen ruhen sich am Vormittag von ihren nächtlichen Streifzügen aus, und die Mäuse können ziemlich sicher sein, nicht von einer Katze gejagt zu werden. Die Mäusefamilie konnte nicht mehr ins Mauseloch zurücklaufen, als die Katze kam. Es gab nur noch die Möglichkeit, den steilen Hang hinauf zu rennen und zu hoffen, dort oben ein Versteck zu finden, wo man vor der Katze sicher war. Sie hatten Glück. Das Leben war gerettet. Doch wie sollte es jetzt weiter gehen? Erst mal zur Ruhe kommen. Dann die neue, fremde Umgebung genau kennen lernen. Vielleicht lässt sich hier sogar ein Plätzchen finden, wo man sich auf längere Zeit einrichten kann, denn die Rückkehr zum Mauseloch am Travehang ist zu gefährlich. Die wichtigste Voraussetzung hierfür ist, dass man von hier aus auch regelmäßig was zum Futtern auftreiben kann. 
Was war das eigentlich für ein seltsames Gebäude? Zwar hatten die Mäuslein dieses Gebäude immer vor Augen gehabt, wenn sie ihr Mauseloch am Traveabhang verließen. Und sie hatten sich auch an das regelmäßige Schlagen der großen Turmuhr und dem Geläut der Glocken gewöhnt. Von dem Gebäude oben auf dem Hügel ging für die Mäusefamilie keine Gefahr aus. Doch der Mäusevater meinte immer, es lohne sich nicht, dort hinein zu gehen, denn dort sei nichts Essbares aufzutreiben. Deshalb heißt es bei den Menschen auch: "Der ist arm wie eine Kirchenmaus". Doch nun war gerade dieses Gebäude für die Mäusefamilie zum Zufluchtsort geworden. 
Schon bald stellte sich heraus, dass der Vater Recht hatte. Es gab hier wirklich nichts Essbares zu holen. Keine Brotkrume war hier zu finden. Wie soll das Leben hier ohne was zum Beißen bloß weitergehen? Draußen vor der Kirchentür lauert die todbringende Katze - und drinnen der Hungertod.
"Die sicherste Zeit für Mäuse sind die frühen Morgenstunden," so hatte der Vater immer gesagt. "Dann werden die Katzen nach ihren nächtlichen Raubzügen schläfrig und unaufmerksam. Da können wir Mäuse ziemlich gefahrlos auf Futtersuche gehen."
Die Mäusefamilie richtete sich unter dem Podest, auf dem die Kirchenbänke stehen, ein neues Zuhause ein, überprüfte das ganze große Gebäude, um sicher zu sein, dass Katzen nirgends unverhofft hereinkommen und sie jagen können. Erst dann begaben sie sich zur Ruhe, obwohl ihre Mägen fürchterlich knurrten, denn der heutige Ausflug zur Futtersuche in der Frühe war zu ihrem Unglück geworden, und nun mussten sie bis zum nächsten Morgen warten, um auf Futtersuche gehen zu können, denn tagsüber wagten sie sich nicht aus ihrem Versteck.
Als die Mäusefamilie am nächsten Morgen nach einem erholsamen und gefahrlosen Schlaf aufwachte, war es draußen noch dunkel. Vorsichtig, und nach allen Seiten blickend und lauschend, verließen sie die Kirche und huschten über den Friedhof. Auch hier war nichts Essbares zu finden. Doch sie wussten von ihren früheren Ausflügen, dass sich hinter dem Friedhof eine Koppel befindet, auf der Kühe weiden. Diese bekamen regelmäßig zusätzlich zum Gras auf der Weide ihren Futtertrog mit nahrhaftem Futter aufgefüllt. Das schmeckt auch Mäusen - zwar nicht ganz so gut, wie frisch geräucherter Speck. Doch dafür lässt sich das Futter ziemlich gefahrlos beschaffen, denn auf der Kuhkoppel stehen keine Mausefallen und die riesigen Kühe schauen friedlich zu, wenn sich eine kleine Maus an den Futtertrog heranwagt.

Von nun an waren die Mäuse der Mäusefamilie zu Klein Wesenberger Kirchenmäusen geworden. Sie lebten nun in der Kirche und machten sich an jedem Morgen auf den Weg zur Kuhkoppel, um dort zu frühstücken. Sie hatten sich längst daran gewöhnt, dass ihnen dieses große Gebäude nicht allein gehörte. Sonntags läuteten mehrmals die Glocken, dann kamen Menschen herein, setzten sich auf die Bänke über ihrem Versteck, und dann dröhnte von oben herab die Orgel. Aber das alles war keine Gefahr für die Mäusefamilie. Die Mäuse verhielten sich unter den Kirchenbänken ganz still, bis alles wieder vorüber war. Manchmal kamen auch der Küster oder seine Frau oder beide, stellten frische Blumen auf den Altar, putzten die Bänke oder hantierten mit einer großen Trittleiter, um neue Kerzen auf die Leuchter zu stecken. Da musste die Mäusefamilie schnell in ihrem Versteck verschwinden, denn das Kommen des Küsters wurde nicht durch Glockengeläut angekündigt. Auch der Organist kam zu unregelmäßigen Zeiten, um auf der Orgel zu üben. Einmal kam sogar eine Flötengruppe zum Üben. Diese Musik hörten die kleinen Mäuslein sehr gerne. 

Zweimal musste die Klein Wesenberger Kirche wie wohl alle Kirchen im Land zwei ihrer drei Glocken abgeben, 1917 und 1944, weil die Menschen gegeneinander Krieg führten und die Menschen das Metall brauchten, aus dem die Glocken gegossen waren, um daraus Granaten und andere Munition zu gießen. 1917 wurden sogar die metallenen Orgelpfeifen abgebaut und eingeschmolzen. Nun liegt das Metall der Klein Wesenberger Glocken und Orgelpfeifen irgendwo an der Maas in Frankreich oder der Wolga in Russland in der Erde. So was gibt es bei Mäusen nicht. Sie führen keinen Krieg gegeneinander, sondern streiten sich höchstens mal um einen guten Futterbrocken. Doch dann vertragen sie sich wieder. 

Zweimal wurden nach den beiden Weltkriegen wieder neue Glocken gegossen, nämlich 1931 und 1952, und mit viel Brimborium wieder auf den Turm gehievt. 

Ein weiters großes Ereignis fand 2012 statt. Da erhielt die Kirche ein neues Dach. Und auch die Sandsteingiebel wurden erneuert. Bei dieser Baumaßnahme begann man auch an Tiere zu denken, aber nur an die Tiere, welche die Menschen als "Nutztiere" oder schützenswerte Tiere bezeichnen, die vom Aussterben bedroht sind. "Zu diesen Tieren gehören wir Mäuse nicht. Obwohl uns Noah mit auf seine Arche genommen hat, werden wir verfolgt und sind damit auch eine gefährdete Tierart. Zwei Gattungen von Lebewesen machen uns das Leben schwer: Die Katzen und die Menschen. Dabei haben die Menschen im Laufe der Jahrhunderte die grausamsten und raffiniertesten Fallen erfunden, um uns zu töten und auszurotten!" dachte der Mäusevater.

Als man 2012 das Dach der Klein Wesenberger Kirche erneuert hat, wurden auch Einfluglöcher für Fledermäuse ins Dach eingebaut und Nistkästen auf dem Dachboden oberhalb des Deckengewölbes der Kirche aufgehängt. Und auf dem Turm wurden Einflugmöglichkeiten für einen Turmfalken und für eine Dohle geschaffen. Dafür wurde die Kirche sogar vom Naturschutzbund ausgezeichnet. Doch an Mäuse hat man nicht gedacht, obwohl in vielen Predigten von "Bewahrung der Schöpfung" geredet wird und die Mäuse, zumindest die Hausmaus, in diesem Jahr fast ausgerottet waren.

Erst zehn Jahre später, nämlich 2022, als man wieder genug Geld hatte, um auch das Mauerwerk und das Innere der Kirche zu sanieren, hat man oberhalb der Fundamente kleine Einlassschlitze für Mäuse geschaffen. Nun können die Mäuse ungehindert in die Kirche und zu ihrem Unterschlupf unter dem Podest der Kirchenbänke gelangen. Vorausgegangen war, dass 2020 die europäische Kommission in Brüssel ein Gesetz erlassen hatte, das anerkennt, dass alle Säugetiere Geschöpfe Gottes seien und damit schützenswert sind, auch Mäuse. Ausgenommen sind nur die Schlachttiere, wie Rinder, Schweine oder Puten. Für sie wurde lediglich festgelegt, dass sie artgerecht zu halten sind, bis sie geschlachtet werden. Seit fünfzehn Jahren können sich nun die Mäuse  als Teil der Schöpfung frei bewegen und müssen keine Angst mehr vor den Menschen und ihren schrecklichen Fallen haben. Sie müssen sich nur noch vor den Katzen vorsehen.

Ob das wohl mal Wirklichkeit wird? Oder bleibt das nur ein Traum?



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